Man mag sich darüber erregen, dass die Führungsriege der AKP sich gegenwärtig auf Herrn Erdogan als uneingeschränkten Anführer eingelassen hat und dass dieser momentan anscheinend versucht ein Präsidialsystem einzurichten, dass ihm erhebliche Machtbefugnisse einräumen würde. Solche Machtbefugnisse, von denen manche Leute sagen, dass sie den Weg in eine Diktatur bedeuten. Also ungefähr solche Machtbefugnisse, wie sie der US-Präsident schon seit Jahr und Tag innehat. Man verknüpft natürlich überdies immer das Streben des beteiligten Protagonisten nach Veränderungen mit dessen mutmaßlichen Machtambitionen. Aber vollkommen unabhängig davon, dass der brillante Rhetoriker aus kleinen Verhältnissen seinen Traum von Macht lebt, strebt er Veränderungen an, die ihn lange überdauern sollen. Denn er hat gewiss Angst, dass eine Türkei ohne starken Mann an der Spitze sich nicht als Regionalmacht behaupten kann. Speziell gegenüber Syrien, Israel und dem Iran. Und mit dem Gefühl im Herzen, dass der Weg zur EU-Mitgliedschaft auf längere Sicht verbaut ist, sieht er den besten Weg, die Interessen seiner Heimat zu schützen darin, die Türkei zum regionalen Hegemon auszubauen. Immerhin gründet die Macht der AKP vor allem auf dem Gefühl der kleinen Leute, endlich wieder eine starke Heimat zu haben.
Es ist derzeit durchaus nicht unüblich, gegenüber Geschehnissen in der Türkei entweder mit Häme oder mit unverhohlenem Hass zu reagieren. Zumindest habe ich diesen Eindruck beim Überfliegen der üblichen Medienangebote gewonnen. Häme nach dem Muster „wir haben doch gesagt, dass die keine zuverlässigen Partner sind“, oder „wer Wind säht, wird Sturm ernten“; oder man agiert eben vollkommen xenophob und Islamfeindlich. Es gibt natürlich auch noch das andere Ende des Stimmenspektrums, wo sich jene tummeln, die dem Anschein nach alles glauben, was die türkische Regierung so verlauten lässt. Und dann dementsprechend genauso hasserfüllt über die hiesige Presse, Politiker, etc. herziehen, wie manche meiner teutonischen Mitmenschoiden über die Türkei. Also mal wieder unnötiges verbales Aufrüsten 2.00 in der größten Sprachkloake der Welt: dem Internet. Aber im „alle über einen Kamm scheren“ waren wir ja schon immer Spitze. Ich habe hier im Übrigen nicht die Absicht, Herrn Erdogan zu schmähen. Das schafft er durch sein eigenes Tun viel besser und nachhaltiger, als ich es je könnte.
Es gilt zwar auch für die Printmedien, dass die Berichterstattung alles andere als differenziert und ausgewogen daherkommt, doch was sich in den Kommentarspalten tummelt, kann man getrost als armseligen Möchtegerndjihad kleinbürgerlicher Großmachtträumer bezeichnen. Egal, welchen Glaubens oder welcher Herkunft die Kombatanten sind. Es ist mehr als beschämend für meine Spezies, wie kleingeistig, dumpf und aggressiv hier zu Werke gegangen wird. Vor allem offenbart sich dabei, dass die Skripte der verbalen Eskalation sich auf beiden Seiten extrem ähneln: die Menschen aus den kleinbürgerlich-traditionellen, wertkonservativen Milieus beider Seiten – wie stets in Sorge um ihren bescheidenen Wohlstand und ihre ebenso bescheidene Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen – fühlen sich von ihrem jeweiligen Spiegelbild in ihrer Autonomie und Identität bedroht. AKP oder AfD… die Klientel sind sich heute zu ähnlich, weil auf beiden Seiten einfache Lösungen für hoch komplexe gesellschaftliche Probleme angeboten werden.
Würde man genauso eindimensional und kurzsichtig agieren wollen, wie die Bauernfängeropfer auf beiden Seiten, könnte man sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass Herr Erdogan sich halt an den demokratischen Prinzipien Europas zu orientieren habe, wenn er etwas von der EU möchte. Nun ist es aber so, dass a) die EU etwas von ihm will, b) die EU gewiss kein Monopol auf die Demokratie hat und c) DIE demokratischen Prinzipien der EU schwer auszumachen sind. Vielleicht sollten wir mal Viktor Orban nach seiner Definition fragen…? Nein, wir Deutschen sind nicht Kraft Verfassung im Besitz der einzig seligmachenden Wahrheit; die Türken auch nicht, aber es könnte ja mal helfen, wenn man sich von derlei Gedankengut einfach verabschieden würde.
Eine Spitze in Richtung der Türkei als Staatswesen und Rechtsnachfolgerin des osmanischen Reiches kann ich mir aber dennoch nicht verkneifen: Völkermord ist Völkermord, auch wenn man keinen Bock darauf hat, an die Fehler seiner Vorfahren erinnert zu werden. Das passiert uns Deutschen dauernd und ich kann versichern, dass man sich daran gewöhnt. Ich fände es jedenfalls total erfrischend, wenn man sich auf beiden Seiten die Zeit nähme, mal länger als 12 Mikrosekunden über das nachzudenken, was man zu äußern plant. Insbesondere wenn man Schmähungen, Herabsetzungen und Beleidigungen plant. Aber wer bin ich schon, dass ich euch gewaltgeilen Verbaldjihadisten und -kreuzrittern da draußen einen sinnvollen Ratschlag geben darf? Daher sei allen Hetzern im Netz gesagt: Sterbt wohl, ihr trüben Tassen!