Das ist ein schönes Wort. Ich persönlich mag Fremdworte, weil ich der Meinung bin, dass sie unsere Sprache bzw. deren Variantengehalt bereichern. Und sich verschiedener Begriffe bedienen zu können, um einen Sachverhalt, ein Ding oder auch eine Idee zu beschreiben verleiht der Sprache mehr Bildhaftigkeit, mehr Charakter, mehr Wucht. Sprache ist ein Instrument, das man auf mannigfaltige Art und vor allem mit unterschiedlicher Stärke gebrauchen kann. Zwischen Skalpell und Abrissbirne ist da für jeden was dabei.
Ein Bagger mit dem vorgenannten Werkzeug ist nun für seine chirurgische Präzision ungefähr so berüchtigt, wie die amerikanischen Lenkwaffenangriffe während verschiedener militärischer Operationen im Nahen Osten. Er wäre für mich eher selten die erste Wahl wenn es um verbale oder schriftliche Kommunikation geht, wenngleich ein deftiger Ausflug in die volkstümlich frontalen Gefilde der Gesprächskultur durchaus dann und wann indiziert sein kann – und wenn es nur dazu verhilft, mich danach besser zu fühlen. Immerhin bin ich Rechtschutz versichert…
Aber eigentlich fühle ich mich eher auf dem durchaus etwas zerklüfteteren Terrain der pointierten Hochsprache wohl, wo man sich seine Taktik selbst formen kann und nicht darauf angewiesen ist, ohne ausreichende Deckung oder Reserven blindlings in den Nahkampf zu stürzen. Die Fallen, in welche man hier geraten kann sind gewiss subtilerer, wenn auch keinesfalls ungefährlicherer Natur. Aber es macht einfach mehr Spaß um Kohärenz zwischen Gedanke und Ausdruck zu ringen, denn schließlich versucht man ja, etwas zum Zuhörer bzw. Leser zu transportieren: ein Bild, eine Idee, was auch immer. Und bekanntermaßen können zwischen DEM was ich sagen wollte und DEM, was der Rezipient meint, verstanden zu haben Welten liegen. Häufig nur ganz kleine Welten, aber immerhin…
Ich schweife ab, was mir zwar Spaß macht, aber der Sache nicht immer dienlich sein mag, über die ich eigentlich zu sprechen die Stirne haben mochte. Ich sagte zu Beginn dieser Ausschweifung ein Wort: Divergenz! Aber auch, wenn’s jetzt schwer zu glauben ist; genau davon habe ich eben gesprochen: Abweichungen. Bei der Kommunikation zwischen Menschen, selbst wenn sie vermeintlich die gleiche Sprache sprechen – in unserem Falle wäre das wohl Deutsch, genauer gesagt in meinem Fall Hochdeutsch, obschon ich dem Dialektalen Duktus durchaus nicht abhold bin, wenn’d verstääscht, wie isch mään – kommt es immer wieder beinahe unvermeidlich zu Divergenzen. Man könnte diese als natürliche Reibungsverluste abtun, aber die Auswirkungen sind gelegentlich sehr interessant.
Es beginnt damit, dass die Prämissen, also die Grundannahmen, auf denen jeder verbale Austausch fußt sehr unterschiedlich aussehen können. Nehmen wir als Beispiel folgende Situation: Ich unterhalte mich mit einem Kollegen meines Berufsstandes über die letzte Schicht und dabei fällt der Satz: „…und dann haben doch tatsächlich zwei Leichen rumgedreht…“! Lassen sie die Worte wirken, erinnern sie sich an die Tatsache, dass ich im Rettungsdienst arbeite und in meinem bald 18 Dienstjahren vermutlich schon fünfzig Mal oder mehr Tote gesehen und angefasst habe, als andere Menschen in ihrem ganzen Leben live zu Gesicht bekommen. Für mich ist das normal. Aber was denkt derjenige, der diese Konversation nebenbei mitbekommt? Hält er mich für Pietätlos, für unglaublich abgebrüht, oder gar für einen Mörder? Hat er eine Vorstellung davon, wie sich so was anfühlt? Ich weiß es nicht, aber ganz sicher würde er eine Menge anderer Floskeln ebenso wenig verstehen oder einordnen können. Im Gegenzug fehlt mir sicher der Einblick in die Erfahrungswelt eines Automechanikers, was die Kommunikation unter bestimmten Umständen gewiss auch erschweren kann. Und wie gesagt – wir sprechen alle mehr oder weniger Deutsch.
Und was ist mit Ausländern?
Oh je, bevor es gleich losgeht – nein, ich schwinge jetzt keine Xenophobie-Keule und bin auch kein Nazi. Ich fragte mich nur gerade, wie schwer es wohl sein muss, all diese Subtextinformationen und Spezialgruppenslang-Ausdrücke zu verstehen, wenn man selbst die sprachliche Grundlage vielleicht nur mäßig beherrscht? Oder andersrum, man damit konfrontiert wird, sich in eine spezielle Gruppe integrieren zu müssen, bevor man die Chance hatte, die Basics zu lernen?
Wenn ich mich recht entsinne, ist die Sprache eines der Hauptmerkmale, wenn es um die Zugehörigkeit zu einer kulturellen bzw. ethnischen Gruppe geht. Sie schöpft kulturelle Identität wie kaum etwas anderes. Und sie trennt Völker; womit wir schon wieder bei der Babylonischen Sprachverwirrung wären. Man kann schwer bestreiten, dass es um die Kenntnis unserer Muttersprache nicht gerade zum Besten steht. Und damit meine ich nicht nur Mitbürger mit Migrationshintergrund. Wie lausig die Regeln des kontemporären teutonischen Idioms so manchem im Geiste sind, der einen astreinen deutschen Stammbaum sein Eigen nennen darf spottet so mancher pisaesk induzierten Bildungsverbesserungsbemühung mit einer ziemlich langen Nase.
Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Sie beginnen bei mangelhaften Erziehungsbemühungen in diversen Elternhäusern – und ich kann nicht sagen, das DIES ein rein auf das so genannte Prekariat beschränktes Phänomen ist – setzen sich in einem von Insellösungen durchwirkten, wenig prächtigen Netz aus 16 verschiedenen Schulgesetzen und den daraus resultierenden Reibungsverlusten fort und münden schließlich in einer Verwässerung der Sprache, welche allzu früher Einflussnahme durch Soziolekte, Dialekte und andere lingo-cerebrale Leckagen geschuldet ist. Kinder und Jugendliche imitieren im Allgemeinen das, was ihnen vorgelebt wird. Ein Mechanismus, der das Lernen verschiedenster Dinge erleichtern soll führt so dazu, dass auch die falschen Verhaltensweisen abgeschaut werden. Was bei den Essgewohnheiten super funktioniert, ist natürlich bei der Sprache nicht anders. Warum auch?
Die so entstandenen sprachlichen Divergenzen machen es Newcomern in unserem schönen Lande nicht gerade einfacher, sich unsere Sprache anzueignen und alles in allem ist es auch nicht sehr attraktiv, da es ja schon jede Menge anderer Leute gibt, die hier leben und es bis heute aus den gleichen oder ähnlichen Gründen nicht für nötig befunden haben, unsere Sprache wenigstens soweit zu erlernen, dass man mit ihnen eine vernünftige Kurzkonversation führen kann. Auch das gilt übrigens nicht nur für Mitbürger mit Migrationshintergrund. Man begebe sich zur Prüfung dieser Aussage in etwas, dass es nach Aussagen deutscher Politiker bei uns nicht gibt, von dem aber jeder weiß, wo er in seiner Nähe eines finden kann – nämlich das nächste Ghetto!
Es klingt vielleicht ein wenig abgedroschen, aber kulturelle Identität kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass sich Menschen mit der gleichen kulturellen oder ethnischen Zugehörigkeit eben gerne in räumlicher Nähe zueinander ansiedeln. Hat was mit dem Wunsch nach Wohlfühlen in der Nachbarschaft zu tun. Das allein wäre noch kein Problem, wenn nicht die Ureinwohner – übrigens überall auf der Welt – mit einer gewissen Xenophobie geschlagen wären, die dazu führt, dass es NICHT zu einem Grad an Vermischung kommt, von dem vielleicht beide Seiten profitieren könnten, weil diese oft genug ziemlich fluchtartig die Wohngegend zu meiden beginnen bzw. verlassen, in welcher sich DIE ANDEREN anzusammeln begonnen haben. Et voilá: Ghetto! Noch mal zur Erinnerung: dieser Zusammenhang hat nicht unbedingt was mit der Ethnischen Herkunft DER ANDEREN zu tun. Das beschriebene Modell funktioniert z.B. auch für die Gentrifizierung. Wer nicht weiß, was das ist, soll’s bitte googeln.
Es wird also allenthalben divergiert, in der Sprache ebenso wie in den sonstigen sozio-kulturellen Merkmalen und darum ist Divergenz für mich ein so schönes Fremdwort. Wir haben hier nämlich noch lange keine Integrationsgesellschaft und werden auch nie eine haben, so lange Menschen in einer großen Breite durch alle Bevölkerungsschichten nicht lernen, ihre Angst vor dem Fremden an sich zu zügeln – welche Darreichungsform es auch haben mag.
In einer Divergenzgesellschaft zu leben kann aber auch sein Gutes haben, denn es nötigt mich, so ich denn dazu bereit bin, mich mit meinen Nachbarn und meinen irrationalen Ängsten vor denen auseinanderzusetzen. Dabei lernt man eine Menge Dinge – nicht nur über sich selbst, sondern auch seine Nachbarn. Wenn man dann noch die Kraft findet, wenigstens ein bisschen über seinen Schatten zu springen und ab und an ohne oder wenigstens nur mit geringer Vorurteilsbelastung den Dialog zu suchen, sind wir verglichen mit der heutigen Situation schon auf einem Expressweg zu mehr Integration. Darüber, das Integration im Übrigen nicht bedeutet, dass jeder unserer „Leitkultur“ huldigen muss, unterhalte ich die werte Zuhörerschaft bei einer anderen Gelegenheit. Zum Abschluss nur soviel; wenn ich Deutscher beim Essen schon so gerne Multikulti bin, dann muss ich mich doch ernsthaft fragen lassen, wieso mir der Mann hinter der Theke, der mir meine Mafiatorte oder meinen Döner reicht so suspekt sein soll…
Denken sie wohl, bis zum nächsten Mal!